Wolfgang Tillmans fotografiert in der U-Bahn die Achselhöhle eines Passagiers, der sich an der oberen Stange festhält. Thomas Ruff fotografiert die Lichter der Stadt Düsseldorf mit Grünstich. Gregory Crewdson fotografiert die menschenleeren Ruinen von dem Dorf Cinecitta in Italien. Das sind Beispiele für die Art der Streetphotography wie sie in dem Buch The World Atlas of Streetphotography von Jackie Higgins zu sehen sind. Das Buch will das Werk von 100 etablierten Fotokünstlern zeigen aus allen Teilen der Welt. Das gelingt dem Buch auch, aber dies unter dem Titel Weltaltas der Streetfotografie zu verkaufen halte ich für falsch. So werden die Aufnahmen von Tillmans mit den Achselhöhlen sogar als Fußstapfen von Walker Evans bezeichnet.
Hier erreicht uns dann die Umwertung aller Werte. Und so ist dieses Buch ein wunderbares Dokument aus der Kunstwelt, der künstlichen Welt, die versucht, die Wirklichkeit und die Geschichte einfach mal neu zu malen. Insofern ist dieses Buch wie die Fotografie. Da es weder ein gemeinsames Vokabular noch eine weltweite Einheitlichkeit über Wertmaßstäbe für Fotos gibt, kann man alles unter allem zusammenfassen. Und hier werden eben Performance und Contemporary Art vermischt und dann als Streetphotography präsentiert. Als Weltatlas der fotografischen Kunstszene wäre das Buch sicher gelungen aber mit diesem Titel?
Sean Sheehan hat dieses Buch auch rezensiert und er drückt dies etwas sympathischer aus: Der Weltaltas der Streetfotografie sei ein abenteuerliches Buch, welches das Wunderbare wie das Mundane (Innerweltliche) zeige, in Erinnerung an Tony Ray-Jones Worte über die Streetfotografie: „Fotografie kann ein Spiegel sein und die Welt reflektieren wie sie ist, aber ich denke vielleicht ist es auch möglich wie Alice damit rumzulaufen und beim Blick durch das Glas eine andere Welt mit der Kamera zu finden.“
Im Original: „The World Atlas of Street Photography is an adventurous book that traverses the miraculous as well as the mundane, bearing testimony to Tony Ray-Jones’s words about street photography: „Photography can be a mirror and reflect life as it is, but I also think that perhaps it is possible to walk, like Alice, through a looking glass, and find another world with a camera.“ There is certainly an Alice in Wonderland quality to some of the images, while others capture not so much the „decisive moment“ as the purely serendipitous.“
Vielleicht bewegt sich dieses Buch tatsächlich zwischen dem Alice im Wunderland Syndrom und dem einfachen Erfassen der Wirklichkeit. Aber es gibt sicherlich Fotografien, die mir dazu besser geeignet erscheinen mit dem Etikett Streetphotography.
Damit möchte ich zum zweiten Weltatlas kommen mit dem Titel Arbeit. Es ist „ein Weltatlas der Arbeit in Bildern“ wie man auf der Rückseite des Buches lesen kann, eine Sammlung von Fotografien aus Bilddatenbanken und anderen Quellen mit vielen deutschen Namen, herausgegeben von Stefan Pielow und Emanuel Eckardt.
Gewerkschaft kommt in diesem Buch nicht vor aber ein Hinweis auch auf zu verbesserende Arbeitsbedingungen. Und dann befinden wir uns in einem Feuerwerk farblicher Ästhetik, die aus Arbeit ein Fest für die Augen macht.
Wie schreibt Claudio Campagna in ihrer Rezension?
„Arbeit ist schön. Die Fotos in diesem Bildband jedenfalls sind es. Mögen die Menschen auch noch so schwitzen, sich das Kreuz oder den Kopf zerbrechen, die Aufnahmen von ihnen sind ausgesprochen ästhetisch.“
Ja so ist es. Insofern ist diese Sammlung sehr gelungen, wenn man fotografisch etwas lernen will: wie kann man mit Hilfe von Farbe und Licht aus schmutziger Arbeit ein schönes Foto machen? Aber damit nicht genug. Hier finden sich auch Fotos, die Arbeit so weit abstrahieren, daß daraus auch Fotokunst wird, weil das Foto so ästhetisch wirkt. Und es ist ein gutes Buch zum Thema Recht am eigenen Bild, weil die Personen – wenn es sich nicht um offizielle Fotos handelt – eigentlich nie erkennbar sind, zum Teil sogar bewußt als Teil der Bildstrategie.
Beide Bücher sind Ausdruck eines neuen Ansatzes und Teil des Zeitgeistes. Insofern sind sie nicht zu verdammen sondern zu diskutieren. Sie spiegeln Versuche wieder Fotografien einzuordnen und soziale Gebrauchsweisen der Fotografien zu definieren.
Wir sind also mittendrin in unserer Zeit und sollten mitmachen statt auszugrenzen – aber abgrenzen.
Insofern sind diese beiden Atlanten – neudeutsch Atlasse – der visuellen Welt Beispiele, die uns viel zeigen und viele visuelle Reisen ermöglichen.
Na dann mal los!