Früher habe ich Bücher geschrieben über den Nationalsozialismus, die Gewerkschaftsbewegung, das Leben der kleinen Leute im Arbeitsleben, Ausstellungen organisiert, Lernsoftware entwickelt und Seminare zu Themen wie „Global denken vor Ort handeln“ geleitet. Nach der Grenzöffnung 1989 qualifizierte ich Menschen und half, in Umbrüchen neue Lebensorientierungen zu finden und dann wechselte ich in die industrielle Organisationsentwicklung.
Ein besonderes Erlebnis hatte ich kurz nach dem Fall der Mauer. Ich hatte den Auftrag in Frankfurt/Oder Lehrgänge durchzuführen. Ich erhielt Räume in der ehemaligen SED-Parteihochschule. Dort waren noch die Fotos mit Breschnew und Honecker an der Wand und Aufrufe zur Völkerfreundschaft. Die Menschen wurden in den Betrieben und den Verwaltungen freigestellt und über Nacht in die Lehrgänge geschickt. Alles erwachsene und qualifizierte Männer und Frauen. Und ich sollte nun das „Ankommen“ und die Strukturierung übernehmen. Niemand hatte Erfahrung, wie man damit umgeht, dass über Nacht ein System verschwindet und ein anderes System kommt und „Hallo“ sagt. Leider habe ich damals noch nicht fotografiert.
Als ich zurückkam erlebte ich im Bergischen Land die Fortsetzung dieser Politik unter neuen Bedingungen. Die politisch beschlossene gesetzliche Öffnung der Märkte, der Abbau von Schutzzöllen und die EU-Subventionen liessen Betrieb für Betrieb verschwinden. Westdeutsche Betriebe wanderten nach Ostdeutschland ab und ostdeutsche Betriebe dann nach Polen oder China. Oft war ich einer der wenigen, der das Sterben der Betriebe und das Sterben der Hoffnung der Menschen sah. Darüber wollte ich schreiben. So entstanden wieder Bücher zur Selbsthilfe für die Menschen wie die Sorgenfibel und Webseiten wie lebenspower.de.
Aber das war zu wenig. Ich wollte nicht nur helfen sondern auch festhalten für die Nachwelt. Denn die Worte zeigten keine Gesichter und die Geschichten erzählten keine Momente, so wie ich es erlebt hatte.
So kam ich zum Fotografieren.
Versuch und Irrtum
Viele Fotos gefielen mir nicht. Da ich keine fotografische Ausbildung hatte, war es oft ein reines fotografisches Schiessen. Das gefiel mir so wenig wie das Schreiben, weil es vielfach nicht zeigte, wie es wirklich war.
Der Bericht über den Kampf um Mannesmann war 1999/2000 wie eine Art fotografische Erweckung. Dabei war es so, als ob mir eine unsichtbare Hand damals den fotografischen Weg gewiesen hatte. Es geschah mit einer der ersten 3 Megapixel Kameras. Aber es reichte nicht. Ich sah die Diskrepanz zwischen Wollen und Können.
Also suchte ich nach fotografischen Vorbildern. Ich entdeckte Henri Cartier-Bresson und seine Art der Fotografie sprach mich sehr an. Mir wurde klar, dass ich so auch fotografieren wollte.
Ich besuchte Seminare, arbeitete mit anderen Fotografen zusammen, wollte viel lernen – und lernte auch viel, nur anders. Meistens ging es nicht um Einsicht sondern um Eitelkeiten. Nur sehr wenige Menschen vermittelten mir echt neues Wissen.
Aber das Problem für mich war die Parallelität von Ereignissen und der Zwang in mir, dies fotografisch festhalten zu wollen. So machte ich mir selbst ein Programm und wandelte auf den Spuren von Henri Cartier-Bresson. Fotos mit Geometrie, Fotos mit Struktur, Fotos mit Details – so versuchte ich mich fotografisch an den Themen, die ich für die Nachwelt bewahren wollte, weil es kein anderer tat.
Wenn ich das alles damals schon nicht aufhalten konnte, dann wollte ich es wenigstens festhalten. Eine kleine Kompaktkamera mit einem 6MP CCD-Chip wurde später mein erster ständiger Begleiter.
Irgendwann merkte ich, dass sich mein Blick verändert hatte und ich beim Fotografieren anders blickte. Auf der Grundlage von Cartier-Bresson entstand mein Blick.
Es war die Loslösung von der Frage, ob die Fotos ankommen hin zu der Frage, wie ich die Fotos in meinem Sinne hinbekomme.
Ich lernte auch, dass das Fotografieren dieser Themen und dieser Art von Wirklichkeit nicht unbedingt viele fotografische Anhänger bringt. Es sind Fotos, deren Zweck das Festhalten ist, um zu dokumentieren und den Zeitgenossen und der Nachwelt eine soziale, historische und politische Reflexion zu ermöglichen.
Es sind oft fotografische Themen ohne Publikum. Als ich das akzeptiert hatte, wurde ich freier aber leichter wurde es nur bedingt.
Als ich mich später nicht mehr nur mit sozialen Kämpfen beschäftigte und sich mein Blick erweiterte, kam auch mehr Farbe in Spiel.
Daraus entwickelte sich dann mit moderner digitaler Technik eine neue Form von Fotografien, die früher als Malerei entstanden wären und heute eben nur digital entstehen können.
Leben mit der Fotografie
Für mich wurde Fotografie zu einem Teil meines Lebens.
Dies alles hat mir geholfen, die Welt und mich ohne zu viele Illusionen zu sehen.
Der Vorteil einer Verwaltungssoftware für digitale Fotografien führte dann auch zu einer Art Bilder-Tagebuch. Blicke darauf ermöglichen eigene Entwicklungen zu erkennen.
Ich erkannte, dass Henri Cartier-Bresson für mich einer der besten Lehrmeister war, weil ich einen Massstab für gute und schlechte Fotografie hatte.
Ich erlebte, wie schwierig es war, dem zu entsprechen.
Und irgendwann merkte ich, dass mir dies nicht reichte sondern ich meine Art des Fotografierens intuitiv entwickelte. Es ist nicht völlig anders. Aber ich sehe anders als er und ich lebe eine gewisse fotografische Parallelität von Monochrom und Farbe.
Jenseits der fotografischen Illusionen
Und ich konnte mich von einigen Marketingversprechen befreien. Es ist eben nicht so, dass die neuste Kamera die „besten“ Fotos macht. Ich habe es viele Jahre ausprobiert und dann erlebt, wie ich für meine Art der Fotografie immer wieder zu speziellen Kameras griff, die einfach dafür am besten geeignet waren.
Ich bin sehr froh, dass ich dies alles erleben durfte und auch die Fähigkeit habe, darüber zu schreiben. Die Ängstlichkeit, irgendwelchen Normen nicht zu entsprechen, habe ich früh abgelegt, nachdem ich gesehen habe, wie wenig substantiiert viele Aussagen zu angeblich „schlechten“ Fotos waren. Übrigens gilt dies auch andersrum für sog. „gute“ Fotos.
Und das Entwickeln eigener Kriterien von mir für z.B. Strassenfotografie tat ein übriges, um die eigene fotografische Souveränität zu stärken. Das bedeutet umgekehrt aber nicht, dass alles gut ist, weil alles möglich ist. Ich entwickelte eigene Ansprüche, die sich auch online finden lassen und die eine klare Beurteilung von guten und schlechten Fotos aus meiner Sicht ermöglichen.
Damit gewinnt man keine Wettbewerbe, damit gewinnt man aber eine gehörige Portion fotografischer Freiheit und fotografischer Freude.
Früher wären die vielen Artikel und meine Fotos z.T. zu Büchern verarbeitet worden oder ausgestellt worden. Wenn Fotos gefällig sind oder keine Themen berühren, die direkt die sensiblen Punkte unserer Gesellschaft treffen, ist das kein Problem. Aber wenn man den echten Zeitgeist festhält und Stimmungen darstellt im öffentlichen Raum, wird es anders.
Paradoxerweise ist die Ablehnung dann am Größten, wenn man das zeigt, was eigentlich jeder öffentlich sehen kann, aber niemand hinschaut, selbst wenn es Millionen betrifft. Es reicht oft fotografisch ein Beispiel, das auf viele andere angewandt werden kann.
Da ich aber auch gerade hier fotografiert habe und nicht die Probleme woanders, habe ich wenig Unterstützung bekommen. Aber es ging und geht ja nicht nur mir so. Das herauszufinden war dann einer der Wege, die ich gegangen bin.
Fast alles was Sie online auf meinen Webseiten sehen, gibt es nirgendwo sonst zu sehen.
Es sind einerseits Dinge jenseits der Medienkarawane, die oft parallel liefen und öffentlich waren und relevant. Die Betroffenen wollten immer, daß ich ihre Probleme und sie festhalte. Doch weder kommunal, noch regional oder national gab es ein Interesse dies festzuhalten. Aber wenn man die Zerstörung sozialer Stabilität nicht öffentlich dokumentieren soll, weil es unangenehm ist, sind die Probleme ja trotzdem da. Und die Ereignisse festzuhalten, die viele kaum aushalten konnten, weil sie für die persönliche Entwicklung so schlimm waren, ist doch wichtig.
Aber man will sie im Wortsinne nicht sichtbar machen und schon gar nicht festhalten.
Es war Fotografie im öffentlichen Raum zu öffentlichen Themen und es ging immer um Menschen. Und um es noch einmal zu schreiben, wenn ich die Dinge nicht aufhalten konnte, dann wollte ich sie wenigstens festhalten. Denn der Kampf um die Erinnerung wird auch in digitalen Zeiten mit dem geführt, was digital da ist und gefunden wird.
Zudem dokumentierte ich ganz konkret in der fotografischen Praxis, wie man ihnen (und uns) die sozialen Strukturen nahm und dann dokumentierte ich, wie sich dies im öffentlichen Raum darstellte und weiterentwickelte. Denn wir leben ja unter diesen neuen Bedingungen. Das Soziale ist das Schicksal des Menschen und das Asoziale der Lebenskampf.
Andererseits habe ich immer die Schönheit als Teil des Sozialen geliebt und aufgenommen. Schöne Momente sind für mich Fotos, die genau das so wiedergeben wie es da ist. Jeder Mensch hat visuell eine sozial anerkannte schöne Seite. Aber wirklich schön ist ein Mensch da, wo er authentisch ist und das rüberkommt. Diese Art der Schönheit kann man nicht bewerten sondern nur wahrnehmen (und fotografisch festhalten). Dann entspricht der Mensch sich selbst im Ausdruck und nicht einem Typus.
Das gilt auch für eine Stimmung oder eine Wirkung. Ich glaube sogar, nur weil ich beide Seiten sehe, habe ich einen Blick für die natürliche Schönheit einer Situation und eines Menschen entwickelt. Es gehört beides zusammen und mein fotografischer Stil ist nicht ein Stil sondern der jeweils angemessene Stil für das, was auf dem Foto gesehen werden soll oder eben Ausdruck dessen, was ich sagen will.
Alles was ich bisher geschrieben habe, ist auf dieser Fotocollage zu sehen und nun können Sie es auch einordnen:
Meine Blogs/Webseiten zur Dokumentarfotografie in Theorie und Praxis wurden schon Anfang 2015 von der Deutschen Nationalbibliothek gesichert. Es waren die einzigen Webseiten, die konkret die Veränderungen in der öffentlichen Wahrnehmung, Veränderungen im Zeitgeist und Zusammenhänge zwischen Fotografie und Wirklichkeit dokumentiert haben. Fachleute haben hier wohl den Blick für die wesentlichen Dinge und dokumentarische Juwelen gehabt. Damit habe ich umgekehrt natürlich kostenlos einen erheblichen Beitrag zur Sicherung unseres kulturellen Erbes geleistet.
Früher habe ich im Rahmen meiner historischen Tätigkeit einmal geschrieben, was nicht in den Akten ist, ist nicht in der Welt. Das stimmt heute nur noch bedingt, weil heute vielfach nur noch das in der Welt ist, was digital da ist und digital gefunden wird. Damit ist die Machtverteilung klar und auch wie Geschichtsbewußtsein und Handeln in der Gegenwart entstehen.
Und weil Weihnachten ist, habe ich dies alles so einmal aufgeschrieben als meine eigene fotografische Weihnachtsgeschichte. Wenn sie Ihnen Mut macht, sich fotografisch weiterzuentwickeln, dann schenke ich Ihnen gerne diese Gedanken für ihr eigenes Leben. Es gäbe natürlich viel mehr zu sagen, aber ich höre hier auf.
Frohe Weihnachten
Herzlichst ihr
Michael Mahlke
Text 1.1
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