„Dirk Snauwaert: Auffallend an der in Frankreich geschaffenen Sammlung scheint mir indessen, dass der poetische Realismus … eines Henri Cartier-Bresson, Robert Doisneau usw. überhaupt nicht vorkommt.
Jean-Francois Chevrier: Das war Absicht. Das geschah ganz bewußt. Zunächst einmal, weil ich damals gegen Cartier-Bresson arbeitete. Um damals den Diskurs über die Fotografie in Frankreich zu beleben, mußte man sich unbedingt von der Autorität Cartier-Bressons frei machen.“
Diese Worte finden sich in dem Buch Tiefenschärfe, das zu der Ausstellung „Tiefenschärfe – Bilder vom Menschen aus den Fotosammlungen des Institut d´art contemporain – Collection Rhone-Alpes, Villeurbanne/Lyon und des Musee d´art moderne de Saint-Etienne Metropole“ in der Kunsthalle Baden-Baden 2006 erschienen ist.
Das Buch hält, was es verspricht. Es ist ein Buch über die Tiefenschärfe mit vielen Beispielen gekaufter Fotos der eigenen Sammlung ohne Cartier-Bresson.
Dadurch erfahren wir, was es an kaufbarer Fotografie noch gab.
Aber beginnen möchte ich mit dem Gedanken an etwas, das heute selbstverständlich ist: „Die Forderung nach gleichmäßig scharfen Details in allen Raumschichten erfüllen erst im späten 19. Jahrhundert eingeführte Objektive und Spezialkameras. Sie erlauben es, den Raum der Straße in seiner Tiefe und Weite – als Ort des Flanierens und des Arbeitens, zu Hause und in der Fremde – zu durchmessen.“
Diese Worte von Fritz Emslander zeigen, woher die Fotografie kommt und was damals ein Problem war.
Was heute technisch selbstverständlich klingt war bis dahin noch der Malerei vorbehalten.
Fritz Emslander schildert dann, wie mit fortschreitender Technik die Motive von der frühen Straßenfotografie zunehmend zum Leben in den Metropolen wechseln.
Die sozialdokumentarische Fotografie entstand, die die soziale Realität abbilden sollte. Dorothea Lange formulierte damals ihre „drei Erwägungen“: Erstens – Hände weg! … Zweitens – Raumsinn… Drittens – Zeitsinn.“
Eine besondere Rolle nimmt in dem Buch das Foto von Hellen Levitt New York 1939 ein.
„Die Fotografie ist tiefenscharf im technischen Verständnis des Begriffes. Die Schärfe ist weitestgehend in die Tiefe des aufgenommenen Raumes ausgedehnt. zugleich aber ist die Tiefe des Raumes, in die der fotografische Blick ausgreift, auf die Frau als das zentrale Motiv der Aufnahme ausgerichtet.“ (Fritz Emslander)
Das Buch zu der Ausstellung ist mehr als ein Katalog. Es ist eine geführte Reise durch andere Kontinente der fotografischen Welt jenseits der Fotografie von Henri Cartier-Bresson und Robert Doisneau.
Emslander nennt dann Walker Evans, Heinrich Hauser, Will Ronis, Brassai und Otto Steinert, der in Deutschland die „subjektive Fotografie“ propagierte.
Dabei geht es nicht mehr darum, mit dem „Raumsinn“ eines Fotos mehr Details der vorhandenen Wirklichkeit zu erfassen, sondern eher darum, „eine künstlerisch angeleitete Sensibilisierung für subtile Inszenierungen des Raumes und der Beziehungen der Personen in ihm und zu ihm. Konstellationen, die der Fotograf im gewählten Augenblick (Lisette Model) findet ohne zu arrangieren.“
Als Beispiel für diese Art der subjektiven Fotografie wird das Foto Appell von Otto Steinert angeführt.
Die Unschärfe des Motivs im Vordergrund wird gekoppelt mit der Schärfe im Hintergrund. Beide beziehen sich aufeinander.
Ähnlich subjektive Fotografie aktuell und in Farbe ist hier zu sehen, wobei hier die Schärfe auf einer Person im weiteren Vordergrund liegt und die Großstadt als Farbenmeer dann unscharf und dennoch mit Perspektive sichtbar ist. Ich habe dieses Foto von mir gewählt, weil man die Fotos aus dem Katalog ja nicht wiedergeben darf. Damit sieht man, daß dieser Ansatz der subjektiven Fotografie weiter aktuell ist.
Halt gibt es nur in sich selbst und Abgrenzung ebenfalls – das ist hier gut zu sehen, weil die Person, die die Straße überquert, keine Abgrenzung und keinen Halt außer durch sich selbst erfährt.
Der ausführlich Katalog zeigt uns gut gedruckte Fotos von Robert Adams, Dominique Auerbacher, Cecil Beaton, Christian Boltanski, Adrien Bonfils, Yves Bresson, Larry Clark, Gabriel Cuallado, Mario De Biasi, William Eggleston, Walker Evans, Patrick Faigenbaum, Robert Frank, Lee Friedlaender, Jean-Öouis Garnell, Nan Goldin, Heinrich Hauser, Raoul Hausmann, Nigel Henderson, Vaclav Jiru, Ito Josue, Valerie Jouve, Chris Kilip, William Klein, Karen Knorr, Helen Levitt, Herbert List, Lisette Model, Nicolas Muller, Carlo Naya, Sigmar Polke, Tony Ray-Jones, Willy Ronis, Otto Schoeft, Jean-Louis Schoellkopf, Otto Steinert, Thomas Struth, Felix Thiollier, John Thomson.
So dient das Buch der Horizonterweiterung und inspiriert zum Ausprobieren.